Dr. Gerd Mörsch

Zu den Papierschnitten von Dorthe Goeden

Auch wenn die meisten der großformatigen Papierarbeiten der Künstlerin Dorthe Goeden durch die Feinheit der Strukturen so leicht wirken als wären es Zeichnungen, handelt es sich streng genommen um plastische Werke. Die Filigranität der Werke täuscht den Betrachter auf den ersten Blick. Es sind Scherenschnitte, die im Englischen allgemeiner und treffender als cut-outs bezeichnet werden.
Dem vielen von uns noch aus der Schule vertrauten Scherenschnitt wurde zuletzt durch die skandalträchtigen Installationen der afroamerikanischen Künstlerin Kara Walker international wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Und dank der teils hochkarätig besetzten paper art-Biennale in der Papierstadt Düren wird die Vielseitigkeit dieses Materials – von der Zeichnung über Papierschnitte und Architekturmodelle bis hin zur raumgreifenden Plastik – regelmäßig Publikum und Kunstwelt vor Augen geführt. Der im Spannungsfeld zwischen Malerei und Plastik angesiedelte Scherenschnitt erlebte seinen Höhepunkt im 18. Jahrhundert. Berühmte Silhouettenschneider wie Philipp Otto Runge schnitten kleinformatige Portraits freihändig und ohne Vorzeichnung. Gewerblich arbeitende Schattenrisskünstler dagegen verwendeten einen Silhouettier-Stuhl und Kerzenlicht für die Erstellung der populären Bilder.

Ein scheinbar leichtes Spiel zwischen Zeichnung und Malerei

Dorthe Goeden überträgt ihre Motive nicht wie etwa bei einem Kupferstich oder Linolschnitt auf eine Druckplatte, sondern reduziert sie wie mit einem Silhouettier-Stuhl auf ihre Umrisslinien. Im Laufe von unzähligen Arbeitsstunden verwandelt sie den Bildträger mit Hilfe eines Skalpells in ein komplexes wie fragiles Netz von Linien. Nur wenige Flächen werden nicht vollständig aufgelöst, so dass die vielschichtigen Werke den Charakter von comichaften Skizzen erhalten. In den jüngsten Arbeiten der Künstlerin wird dieses Verfahren jedoch – ähnlich einem Fotonegativ – scheinbar umgekehrt. Hier dominieren dunkle Flächen. Sie betonen die Schwere des Materials und die cut-outs wirken nun nicht mehr wie Skizzen, sondern wie Malerei. (…)
Die ungewöhnliche Plastizität der cut-outs Dorthe Goedens ist zum einen der Überlagerung von verschiedenen abstrakten und figurativen Motiven geschuldet. Doch während bereits die feinen Linien durch ihre Nähe zu perspektivischen Zeichnungen den Arbeiten Tiefe verleihen, unterstützt zum anderen die ungewöhnliche Hängung der Werke diese Wirkung zusätzlich. Denn die Künstlerin klebt die filigranen, aufgrund ihrer Größe aber nur scheinbar federleichten Papierarbeiten nicht wie gewöhnlich auf einen weißen Hintergrund.

Freiheit von Form und Material

Dorthe Goeden fixiert ihre Scherenschnitte mit feinen, aus Distanz kaum sichtbaren Metallstiften an der Wand. Diese Art der Präsentation betont die Körperlichkeit ihrer cut-outs. Das Papier kann arbeiten, sich bewegen und wird auf diese Weise lebendig. Es kann sich – weil es nicht wie üblich flach auf einem Hintergrund fixiert ist – verformen und abhängig von den Lichtverhältnissen Schatten werfen. Dieses Lichtspiel verstärkt wiederum die Wahrnehmung der Dreidimensionalität der Objekte. Und es kann darüber hinaus zugleich als eine feinsinnige Referenz an die Kulturgeschichte der cut-out-Technik gelesen werden. Wie wichtig diese Freiheit des Papiers der Künstlerin ist, zeigt sich daran, dass sie ihre Scherenschnitte, auch wenn sie gerahmt sind, auf diese untypische Art fixiert. Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass Dorthe Goeden mit ihren Papierarbeiten die traditionelle Zweidimensionalität des Mediums in Frage stellt, so wie Lucio Fontana mit seinen Schnitten die flache Leinwand in eine minimalistische Plastik verwandelte.
In manchen Werken Dorthe Goedens sind Buchstaben und Wörter zu erkennen. Sie liegen auf anderen Motivschichten oder werden teilweise von ihnen verdeckt. Die collagenhafte Überlagerung von Schriftzeichen, das komplexe Wechselspiel zwischen Vorder- und Hintergrund evoziert die ungewöhnliche, bereits beschriebene Körperlichkeit der Arbeiten. Doch so wie die verschiedenen Linien und Umrisse die Assoziationskraft des Betrachters gleich einem Bildersuchspiel wecken, irritieren zugleich die Fragmente von Sprache. Sie fordern ebenso wie die vielschichtige Struktur aus abstrakten und figurativen Elementen die Einbildungskraft heraus. Denn im Gegensatz zu Ed Ruscha etwa, der auf seinen großformatigen Gemälden Marken, Logos und ganze Wortlandschaften präsentiert, handelt es sich bei Dorthe Goeden immer nur um Fragmente. Sie sind mehr Rätsel als Lösung.

Irritation und Inspiration

Auf diese Weise verschlüsselt die Künstlerin ihre Bilder und verleiht ihnen einen enigmatischen Charakter. Dass Dorthe Goeden den Scherenschnitten keine Titel gibt, verwundert vor diesem Hintergrund kaum. Denn diese würden die gewünschte Ambivalenz und das freie Assoziationsspiel im Kopf des interessierten Betrachters beschränken. Das Wechselspiel zwischen Vorder- und Hintergrund, die Überlagerung der abstrakten und figurativen Motivschichten sowie die Textfragmente regen den Betrachter zum Interpretieren und Spekulieren über deren Bedeutung und das Verhältnis der Bildebenen zueinander an. Dank dieser Irritation wird der Blick geschärft, werden vertraute Sehgewohnheiten und Lesarten in Frage gestellt. Will man kunsthistorische Vergleiche bemühen, so scheinen Dorthe Goedens Scherenschnitte nicht zuletzt aufgrund ihrer Körperlichkeit und den Motivschichten den décollagen* des nouveau réalisme verwandt zu sein.
Es hat den Anschein, als lege die Künstlerin neben der Freiheit des Papiers bewusst ebenso große Sorgfalt auf den zuvor beschriebenen freien Interpretationsspielraum des Betrachters. In einem abstrakt anmutenden Werk lässt sich etwa das Satzfragment HAT MEHR BIETEN und der scheinbar am rechten Rand angeschnittene Buchstabe Z erkennen. Intuitiv stellt sich die Frage: Wer oder was HAT MEHR ZU BIETEN? Das Auge sucht nach einem zu dieser vermeintlichen Aussage passenden Motiv. Doch auch bei intensiver Betrachtung findet sich kein solches. Und das Auge verliert sich beim konzentrierten Sehen im Wechselspiel der scheinbar übereinandergelegten Bildebenen. Handelt es sich überhaupt um diese Aussage, oder trügt nur der Schein und das sinnsuchende Gehirn ergänzt automatisch das U zum vermeintlichen Z? Und handelt es sich bei den großen geschwungenen Linien am unteren Bildrand nicht um die Umrisse einer weiteren Schriftebene? Nur selten sind die Buchstaben so schnell eindeutig als solche zu erkennen wie etwa im Falle der schwarzen spiegelverkehrten Letter der Arbeit aus dem Jahre 2008. An diesem Papierschnitt zeigt sich auch die erwähnte Parallele zu den décollagen der 1960er Jahre besonders deutlich. Doch muss an dieser Stelle zugleich der Gegensatz zwischen den mehr oder weniger impulsiven Plakatabrissen des nouveau réalisme und dem meditativen Arbeitsprozess der Künstlerin erwähnt werden.

Zeichen, Symbole und innere Bilder

Unabhängig davon, ob die Werke als Ausschnitt, Filmstill, Comicskizze oder abstrakte Grafik gelesen werden, Dorthe Goedens Motivschichten spielen mit der – je nach Perspektive wechselnden – Verwandtschaft der Formen. Hat das Auge einmal die Buchstabenfolge BGj entdeckt, erscheinen die horizontalen Linien wie jene eines Schulheftes und die parallel dazu verlaufenden rufen das Bild einer unleserlichen Handschrift hervor. Intuitiv liest man die einzigen beiden dunklen Flächen im unteren Bereich als Augenpaar. Doch der auf den Betrachter konzentrierte Blick des – wenn man der Assoziation des Schulheftes folgen möchte – Kindes lässt nichts Gutes ahnen. Seine Augenbrauen deuten auf eine ernste und entschlossene Stimmung. Ausgehend von der Schulheft-Metapher kann das Bild als ein scheinbar von seiner Ausbildung strapaziertes Kind gelesen werden. Doch besinnt man sich auf die wesentlichen Ausgangspunkte dieser Assoziations- und schließlich Interpretationskette – die Buchstaben und das Augenpaar – wird deutlich, wie sehr diese Lesart auf den im Betrachter bereits vorhandenen inneren Bildern basiert.
Die Welt da draußen ist gar nicht die da draußen, sondern die in mir.

*Gemeint sind die ursprünglichen affiches lacérées (französisch für Plakatabrisse). Die Technik wurde von den nouveaux réalistes angewendet, die das Abreißen und Freilegen von übereinander geklebten Werbeplakaten als künstlerisches Mittel einsetzten. Bild- und Textfragmente verschiedener Plakate bleiben erhalten, wodurch sich bisweilen skurrile Effekte ergeben. Als décollage wurde später auch die destruktive Veränderung eines Kunstobjektes bezeichnet. Das Verfremden von Werbeplakaten im Stil der affiches lacérées dagegen erlebt in der heutigen Street-Art-Szene eine Renaissance.

2010



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