Schatten, Schattierungen
Dorthe Goeden zeichnet mit der Klinge des Skalpells. Oder, seltener, mit der Schärfe des Laserschwerts. Üblicherweise setzt sie damit harte Kontraste, schwarz gegen weiß. Baut aber auch auf den maximalen Gegensatz, das diametral Entgegengesetzte, in Bildern weiß auf weiß und schwarz auf schwarz.
Die Künstlerin ist auf der Suche nach dem graphischen Eindruck, also dem in Fläche und Linie klar Umrissenen und Abgegrenzten, wie es sich in der wirklichen Welt hauptsächlich in extremen Lichtsituationen findet: als bloße Kontur im Gegenlicht oder als tiefer Schatten auf möglichst neutralem Grund, mit der Sonne im Rücken.
Aber natürlich gibt es auch sonst visuelle Phänomene, menschengemachte oder natürliche, die zum Linearen drängen oder in sich schon die Tendenz zur Flächenreduktion bergen. Diese Eindrücke sammelt die Künstlerin (oft genug mit der zeichnerischen Notiz als Gedächtnisstütze), filtert sie durch den Prozess der erinnernden Vergegenwärtigung und ergänzt diesen um ihren eigenen, intentionalen Reduktionsanspruch. Damit steht sie jedoch erst am Beginn eines Werkes. Denn aus solchem erst einmal nur zeichnerisch gedachten, streng zweidimensionalen Ansatz heraus entwickelt sie eine freie Form, die mit dem Gesehenen vielleicht wenig, aber mit dem Erinnerten alles zu tun hat. Dieses wird begrenzt und reduziert, aber auch erweitert: Oft genug dient der Künstlerin die spiegelnde Vervielfachung dazu, ein eher ungeordnetes Liniengeflecht zur ornamental wirkenden Symmetrie zu bringen, die ihre eigene Logik und Schönheit in sich birgt.
Bevor aber die Geometrie zu dominant werden oder die Assoziation an Rorschachtestbilder überhand nehmen kann, wird Dorthe Goeden zu radikalen Schnitten ansetzen und das Gefällige zurechtstutzen zum Spannungsgeladenen, Rätselhaften und Geheimnisvollen. Anders gesagt: Es geht der Künstlerin um das Infragestellen der Wiederholbarkeit. Um das Scheitern im Bemühen, ein in der Erinnerung Festgehaltenes zu extrapolieren, sichtbar Gestalt werden lassen, also letztlich die genuin künstlerische Erfahrung, mit dem eigenen Bild nie das angestrebte ideale Bild zu erreichen. Dieses Gespür für das kreative Ungenügen konterkariert Dorthe Goeden mit den Mitteln der absoluten, spiegelgleichen Symmetrie, wodurch sich innerhalb des imperfekten Bildes doch eine perfekte Binnenordnung konstituiert. Ein Maß an Harmonie und Gleichgewicht, das auch den Betrachter und seinen Blick zentriert. Es herrscht das kaleidoskopische Prinzip. Nur um von der Künstlerin schon vor der Bildwerdung wieder in Zweifel gezogen, einseitig asymmetrisch fortgesponnen oder komplett über Bord geworfen zu werden.
Darüber hinaus spielt Goeden gekonnt mit dem Wechsel von Figur und Grund, Vorhandenem und Abwesendem. Stets haben wir es bei ihr mit Schatten zu tun, die einen Schatten werfen. Ihre Schnitte sind nämlich immer mit genügend Abstand vom Grund montiert, egal, ob es nur ein anderes Papier innerhalb des gleichen Rahmens oder die Wand selbst ist. Dazu gesellt sich der Widerstreit zwischen der Scheinräumlichkeit perspektivisch interpretierbarer Linien und der tatsächlichen Räumlichkeit von mehreren Lagen übereinandergelegten Papiers. Die sich daraus ergebenden, abstrakten Liniengitter und -Knäuel, das Organische und das Kristalline, die bizarr verästelten Verzweigungen, Fleckenblüten, Wabenmuster, ornamental verhäkelten Korallen, Sepianudelnester und hypertrophen Spitzendeckchen sind dabei von einer filigranen Virtuosität, die uns staunen macht.
Dr. Stephan Trescher, 2020