Fülle und Leere

Die Scherenschnitte von Dorthe Goeden sind nahezu ausschließlich in Schwarz-Weiß gehalten, sie verzichten gänzlich auf Farbe. Allein diese Eigenschaft besagt, dass sie sich in einem gewissen Stadium der Abstraktion befinden. Denn die Welt, die uns umgibt und die wir mit unseren Augen wahrnehmen, zeigt sich bekanntermaßen kunterbunt. Goedens Beschränkung auf den Schwarz-Weißkontrast rückt ihre Arbeiten also vom Realen ab und fordert verstärkt unsere Vorstellungskraft heraus, vergleichbar etwa einem Schwarzweiß-Foto. Andererseits sind sie im Unterschied zu einem Foto oder auch zu einer Zeichnung haptisch, sie haben eine Materialität, wenn auch inhaltlich eine dem Wirklichen weitgehend entrückte.

Da die mehrschichtigen Arbeiten aus Papier oder Karton nur mit feinen Stiften an der Wand befestigt sind, können sie sich wölben, zuweilen sogar leicht wehen; dadurch werfen sie sich überlagernde Schatten. Diese spielen in dem mehrstimmigen Ereignis ihren Part. Andererseits nehmen die Schnitte als unbunte – beileibe nicht etwa farblose – flachplastische Reliefs selbst den Charakter von Schattenfiguren an. Sie sind damit sowohl Zeugnisse des real Fassbaren als auch des Immateriellen.

Es scheint, dass dies kein Widerspruch ist. In jedem Falle lässt sich ableiten, dass die Scherenschnitte von Dorthe Goeden viel mit dem Verhältnis von Bild und Abbild, von Sein und Schein zu tun haben. Und es ist gerade diese Ambivalenz zwischen Realem und Imaginärem, auch von Fülle und Leere, die den Reiz dieser diffizilen Arbeiten ausmacht – sieht man einmal von ihrem ohnehin faszinierenden visuellen Charme ab.

Die Momente Scherenschnitt und Schattenriss gehören von Alters her eng zusammen, letzterer führt sogar zum Gründungsmythos der Malerei zurück. Man könnte zu dem Thema sogar Platons Höhlengleichnis heranziehen. Näher liegt indessen, wie bereits von anderer Seite ausgeführt, dass in der Enzyklopädie „Naturalis historia“ von Plinius d.Ä. (1. Jh. n. Chr.) von einem Mädchen aus Korinth erzählt wird, welches zur Erinnerung an seinen Geliebten vor dessen Aufbruch zu einer weiten Reise wenigstens seine Silhouette mit einem Stift als Schattenriss an der Wand festhält. Der Scherenschnitt hingegen hat seinen Ursprung im alten China und kam hierzulande insbesondere im 19. Jahrhundert, zur Goethezeit, in Biedermeier und Romantik zu voller Blüte. Bei Goeden sind Schattenriss und Scherenschnitt wieder untrennbar miteinander verbunden, wobei an Stelle der Schere beim Arbeiten das Skalpell zum Einsatz kommt: mit einem Messer oder einem Cutter lässt sich der feste, auf dem Boden ausgebreitete Karton nun einmal leichter traktieren.

Goeden schneidet die Flächen heraus, zurück bleiben die empfindlichen Stege. Sie finden sich zu einem Geflecht von schmalen und breiten Streifen zusammen. Damit sind Goedens Schnittarbeiten letztlich auf das Moment der Kontur, der Linie zurückzuführen; monochrome oder gar strukturierte Binnenflächen fehlen, es sei denn, man betrachtet das feine Netz schwarzer Linien einiger Zeichnungen und Schnitte als detailreiche Fläche. Die wenigen einfarbigen Segmente, die man ausfindig machen kann, dienen der Künstlerin nur als Grundfläche für das sich über ihnen ausbreitende Netz plastischer Streifen.

Der Mensch neigt ja dazu, selbst in einem abstrakt anmutenden Muster wenigstens Anklänge an Existentes zu entdecken. In Goedens Cuttings kann man diese Realitätsrelikte tatsächlich entdecken, seien es organische Formen oder Ziffern, historische Bildzitate oder Buchstaben. Sie entstammen der Erinnerung der Künstlerin. Goeden gewinnt Anregungen für ihre Motive aus Erlebtem, häufig sogar aus Eindrücken, die sie nur flüchtig im Vorübergehen aufgefangen und notiert hat. Dies kann ein grotesk gekrümmter Pflanzenzweig oder ein dekorierter Laternenmast sein, ein Schneckengehäuse oder ein Fensterkreuz. Organoides, Lebendiges findet ebenso ihre Aufmerksamkeit wie Technoides, Architektonisches. Aber auch ein frei erfundenes ornamentales Motiv, eine menschliche Geste oder ein konstruktives Liniengerüst können, oftmals vermischt, Vorwurf ihrer Arbeiten bilden.

Fest hält Goeden diese Auffälligkeiten auf Seiten gebräuchlicher Schulhefte. Tagebüchern vergleichbar bergen diese Notizen den Fundus ihrer Bildmotive. Dass sie ihre Ideen ausgerechnet auf linierten Blättern niederlegt, überrascht. Doch die Linien stören ihren Zeichenfluss nicht etwa, sie sind zwar widerständig, geben aber Halt, sie liefern das Gerüst und einen Anhalt dafür, in welches Format ein Motiv schließlich umgesetzt werden kann. Und Geraden verbleiben häufig als konstruktive Elemente in der endgültigen Papier- und Kartonarbeit gegenwärtig. Dieser geht eine Vorzeichnung voraus, die sämtliche Details enthält und als Vorlage an die Wand geworfen werden kann. Auch den PC setzt Goeden mittlerweile als Hilfsmittel ein; überdies ersetzt der Laserstrahl gelegentlich den Cutter.

Dem Betrachter wird bei seinem abenteuerlichen Erkunden der Zeichnungen und Schnitte kaum bewusst, welch langwieriger, aufwändiger und auch heikler Prozess des Schneidens mehrerer Kartonlagen dem Endprodukt vorausgeht. Mit voller Konzentration am Boden kniend bleibt Goeden nur geringe Distanz zum Objekt, doch gerade diese unmittelbare Nähe, ja direkte Berührung schätzt sie. Wandfüllende Formate wie die filigrane, schwarze, liegende Baumlandschaft sind aus mehreren Versatzstücken zusammengefügt. Vielfach sind sie wie ein Rohrschachtest nahezu klappsymmetrisch angelegt. So auch die vielgestaltige Tuschezeichnung, die man wie die Geburt der sich verströmenden Welt aus dem Urknall oder dem zentralen Nichts heraus lesen kann. Die Spiegelbildlichkeit entspringt sicherlich Goedens Bestreben, das kaum überschaubare Chaos in eine gewisse Ordnung zu bändigen. Wird ein Motiv als Rapport mehrfach wiederholt, so ist es seine Rhythmisierung, die sowohl bewegt als auch gliedernd ordnet.
Goeden reagiert nie direkt auf Zeitgeschichtliches, gar Politisches, wie man es etwa von den Schattenfiguren der Kara Walker und von William Kentridge oder auch von den Metallreliefs von Andrea Browers kennt, auch will sie nicht erzählen. Dennoch ist eine gewisse Nähe zur theatralischen Bühnengestaltung spürbar. Breite Wandarbeiten lassen an einen Bühnenvorhang denken, zumal die collageartig übereinander liegenden Schichten immer mit ihrer Doppelrolle von Verbergen und Enthüllen spielen. Auf Grund der ornamentalen Fernwirkung großformatiger Arbeiten hat man Goeden überdies auch längst für Wandarbeiten im öffentlichen Raum umworben.

Renate Puvogel, 2017

 

 

Abundance and void

Dorthe Goedenʼs paper cuttings are almost exclusively done in black and white, they do without colour completely. This characteristic in itself means that they present a certain stage of abstraction, for as we all know the world that surrounds us and that we perceive with our eyes presents itself as multicoloured. Therefore Goedenʼs confinement to black and white draws her works apart from the real world and strongly challenges our imagination, in a way comparable to a black-and-white photo. In contrast to a photo or a drawing, however, they are haptic, they possess materiality, even though they are to a great extent removed from the real world. As the multi-layered works made of paper or cardboard are usually fastened on the wall only by means of small tacks, they may bulge, at times even waft slightly, thus casting overlapping shadows. These play their part in the polyphonic event. On the other hand, the cuts themselves adopt the character of shadow figures as achromic, but by no means colourless, slightly three-dimensional reliefs. This qualifies them as references to both the really tangible and the immaterial.

This seems to be no contradiction. In any case, one may deduce that Dorthe Goedenʼs paper cuttings have a lot to do with the relationship between picture and image, appearance and reality. This very ambivalence between the real and the imaginary and also between abundance and void determines the attraction of these subtle works – apart from their fascinating visual charm.

Paper cutting and silhouette have belonged closely together from time immemorial; the latter may even be traced back to the founding myth of painting. In this context, one may even refer to Platon´s allegory of the cave. As has been explained elsewhere, however, it is more likely that they are based on the encyclopaedia Naturalis historia, in which Plinius the Elder (1st century B C) relates the story of a girl from Corinth. As a reminder of her lover, she traced his figure on the wall in a silhouette before he departed on a long journey. The paper cutting, however, dates back to ancient China and prospered in this country especially in the 19th century – during Goetheʼs time, Biedermeier and romanticism. Goeden merges silhouette and paper cutting again, but she uses the scalpel instead of scissors for her work: after all, the strong cardboard spread out on the floor can be dealt with more easily with a knife or cutter. Goeden cuts out the surfaces so that the fragile outlines and bridges remain. These connect in a web of narrow and wide strips. Therefore, Goedenʼs cuttings can ultimately be traced back to the element of the contour, the line; monochrome or even structured inner spaces are missing unless one sees the fine web of black lines in some drawings and cuttings as richly detailed space. The few monochrome segments one can detect only serve the artist as the basis for the web of three-dimensional strips spreading out over them.

Human beings tend to discover at least traces of the real world even in an abstract design. In Goedenʼs cuttings one can actually discover such relics of reality, such as organic shapes, numbers, historical picture quotations or letters. They are generated from the memory of the artist. Goeden gathers the inspiration for her motifs from experiences, often even from impressions she captured and noted down fleetingly when passing by. This may be a grotesquely shaped twig or a decorated lamp post, a snail shell or a window cross. Organoid, living shapes as well as technoid and architectural objects may arouse her attention. But a completely invented ornamental motif, a human gesture or a constructive framework of lines, often in combination, may also be used as blueprints for her work.

Goeden captures these conspicuous impressions down on the pages of common exercise books. Similar to diaries, these notes keep the resources of her pictorial motifs. It is surprising that she actually jots down her ideas on ruled paper. But the lines do not disturb the flow of her work at all; they resist, but also offer support, they provide the structure and a clue at the format in which a motif can eventually be carried out. And straight lines often remain as constructive elements in the final paper- or cardboard work. This is preceded by a first draft which contains all details and can be projected on the wall. Goeden now also uses the computer as a supporting tool; furthermore, the laser beam occasionally replaces the cutter.

During the adventure of exploring the drawings and cuts the viewer perceives the time-consuming, delicate and complicated process to cut several layers of cardboard to complete the final product. Kneeling on the floor in utter concentration, Goeden is left with only little distance to her object, but she appreciates just this immediate closeness, the direct touch. Wall to wall formats such as the filigree, black, horizontal tree landscape are joined together from several set pieces. Frequently they are arranged almost mirror-symmetrically, like Rorschach tests. This is also the case with the multiform ink drawing which may be read as the birth of the universe exuding from the big bang or the central void. This mirror symmetry is likely to spring from Goedenʼs effort to force the hardly comprehensible chaos into a certain order. If a motif is repeated several times in a rapport, it is its rhythmical arrangement which provides both motion as well a structure.

Goeden never responds directly to contemporary history or even politics in the way one is familiar with from Kara Walkerʼs shadow figures and William Kentridge or the metal reliefs by Andrea Browers. Neither does she want to relate anything. But still one can notice a certain affinity to theatrical stage design. Broad wall works evoke the association of a stage curtain, especially because the various layers overlapping like a collage always play their double role of hiding and exposing. Incidentally, due to the strong ornamental effect her large wall works have from a distance, Goeden has for a long time been asked to present wall works in public places.

Renate Puvogel, translated by Sabine Kranz



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